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Durch Spazierengehen Baukultur entdecken

Spazierengehen ist banal. Es ist kostenlos, man benötigt keinerlei Ausrüstung, es geht jederzeit und von überall. Gleichzeitig ist Spazierengehen Luxus, braucht Muße.

Hier setzt die Promenadologie, die sog. Spaziergangswissenschaften, an: Es geht darum seine Umgebung auf sich wirken zu lassen, zu genießen und vor allem bewusst wahrzunehmen. Den Flaneur aus dem 19.  Jahrhundert gibt es nicht mehr. Man bewegt sich immer schneller, lässt sich von Bus, Bahn oder Flugzeug orientierungslos am Ziel ausspucken - stets unter Zeitdruck. Die Landschaft rast vorbei und Details verschwimmen, bevor sie sichtbar werden könnten. „Ein Spaziergang ist eine Perlenschnur, die von einem bemerkenswerten Ort – den Perlen – zum nächsten führt. Auf den neutralen Strecken dazwischen überlegt man sich, wie wohl der nächste bemerkenswerte Ort aussehen werde. Normalerweise bereitet der vorangegangene Ort auf den nächsten vor. Heute baut man immer mehr Orte ohne Perlen, […] Was macht das mit uns?"1 

Lucius Burckhardt begründete die Promenadologie in den 80er Jahren. Der Maßstab der Stadtplanung verlagerte sich vom Menschen auf Autos, Mobilität rückte längst in den Fokus. Ganze Straßenzüge wurden abgerissen, um Parkplätze zu schaffen.

Weshalb wohl sind Landschaften schön? Weil wir sie im Kopf haben.

Der Blick auf die Landschaft und Umgebung hat sich stark verändert. Die idealisierten Bilder, die uns durch Medien alltäglich gezeigt werden, manifestieren sich in einer Erwartungshaltung, die nicht erfüllt werden kann. Schon gar nicht entsprechen diese perfekten Inszenierungen der Realität vor unserer (städtischen) Haustür. Diese Idealvorstellungen und Bilder haben wir im Gepäck, wenn wir Landschaft betrachten oder eine neue Stadt besuchen. Auf einen Ort, eine Stadt, gehen wir nicht unvoreingenommen zu, wir bringen immer schon eine Vorstellung, geprägt von dem, was wir kennen, mit. Die Promenadologie möchte den Fokus auf die Wirklichkeit lenken und sichtbar machen. Raumeindrucke wahrnehmen und räumliche Bezüge erkennen.

Nun zur Baukultur.

Baukultur ist nicht nur das besonders schmuckhafte Schloss oder das Denkmalensemble, sondern die gesamte gebaute Umwelt. Baukultur ist nicht die einzelne Perle, sondern eben die gesamte Perlenkette.

Durchs Spazierengehen kann diese gebaute Umgebung erfahren werden, die Wirklichkeit wird sichtbar. Wie nehmen wir unser städtebauliches Umfeldwahr? Wie wirkt die Fassade auf uns, was löst das Material in uns aus? Können wir uns orientieren oder sind wir orientierungslos? Wie können wir die Bezüge verstehen?

Was funktioniert und wo stolpern wir in der Umsetzung von Theorie und Praxis?

Die Promenadologie vermittelt hier eindringlich und gleichzeitig bei niedriger Hemmschwelle für Beteiligungen. Ein Perspektivwechsel als Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Umgebung eines zukünftiges Projektes -  für Expert:innen, Anwohnerschaft oder Besucher:innen gleichermaßen.

Die Sinneseindrücke können zudem noch durch Hilfsmittel oder Vorgaben konzentriert werden. Wie wird durch einen Rahmen blickend die Sicht eingeschränkt – welche Perspektiven eröffnen sich uns? Was nimmt man wahr, wenn man die Umgebung stets durch einen Spiegel blickend erkundet? Was fühlen wir beim Barfuß gehen? Was hören wir um uns herum, das man im Alltag ausblendet?

Und jetzt? Einfach mal gehen!

Dole (FR) 18 Uhr

Am Abend liegt alles im Schatten, nur noch auf den Dächern und in die obersten Stockwerke kommen letzten Sonnenstrahlen. Jugendliche setzen sich auf die Mauern am Place aux Fleurs, allmählich leeren sich die Straßen um sie herum. Passanten schlendern an den kaum besuchten Geschäften vorbei. Tauben nutzen ihre Chance und picken in Ruhe Essensreste vom Boden des Platzes, auf dem es immer leerer wird. Hier und da öffnet sich derweil ein Fenster in den Wohnungen und die darunterliegenden Geschäfte schließen allmählich. Der Stadtbus hält ein letztes mal an seiner Haltestelle, eine Hand voll Leute steigen aus oder ein.

Autofahrspaziergang (Kassel) 1993

Um den Blickwinkel zu lenken kann eine Windschutzscheibe vor die Brust gehalten werden. Die Selbsterfahrung des Spazierengehens wird somit auf eine bestimmte Perspektive fixiert und zur unmittelbaren körperlichen Erfahrung. Lucius Burckhardt versuchte seine Forschungen so auch auf anderen Wegen zu vermitteln und ein breites Publikum performativ in die Welt des reflektierten Gehens einzuweisen. 

Quellen:

1  Laura Anninger; 12.01.2022; Promenadologie: Die Wissenschaft vom Spazierengehen; Die Furche: https://www.furche.at/gesellschaft/promenadologie-die-wissenschaft-vom-spazierengehen-7600834

Zitat: Lucius Burckhardt; 1989; im Gespräch mit Wolfgang Pehnt in Deutschlandfunk; https://www.deutschlandfunk.de/querfeldein-denken-mit-lucius-burckhardt-3-3-radioaufnahmen-100.html